Marie und Florian sind verheiratet und haben zwei Kinder. Ihre Beziehung hat sich über die Jahre zu einem Labyrinth aus Missverständnissen, Schuldzuweisungen und übertriebenen Ansprüchen verdichtet. Florian fühlt sich seiner Familie am nächsten, wenn er mit einem Wingsuit von einem Felsvorsprung in den Bergen springt und über die weite Landschaft gleitet. Marie fragt sich, wie sie in eine Hausfrauenrolle geraten ist, die es doch eigentlich gar nicht mehr gibt. Und Lena, die Florian einen Ausweg bieten könnte, sucht Nähe immer da, wo man sie durch Schmerz teuer erkaufen muss.
Aber diese Konstruktion trägt nicht mehr, als Marie schwer krank wird. Die Figuren geraten in einen Strudel undefinierter Leere, suchen nach Zugehörigkeit und einer verlässlichen Wahrheit des Handelns und Empfindens, nach universalen Werten in einem modernen Lebensentwurf, der allen gerecht wird, auch den Kindern. Gefangen zwischen ausschließlich falschen Optionen, werden sie sich ihrer Abhängigkeit bewusst und verstricken sich immer weiter in einen gefährlichen Machtkampf um die Definition von Verantwortung und Schuld.

„Drei Menschen im freien Fall – Lisa Sommerfeldts „wing.suit“ beeindruckt am Theater der Stadt Aalen mit starken Dialogen. – Mit einer knallharten Dreiecksgeschichte ist das Aalener Stadttheater am Samstagabend in seine neue Spielzeit (Motto: „Innere Sicherheit“) gestartet. „Wing.Suit“ von Lisa Sommerfeldt ist keine leichte Kost. In nur knapp einer Stunde dürfen die Zuschauer erleben, wie drei Menschen in den Abgrund rasen. Ein „Wingsuit“ ist ein Flügelanzug, wie ihn Fallschirmspringer oder Basejumper verwenden. Er lässt Menschen fliegen, lässt sie über den Dingen schweben, macht sie zu so etwas wie Superhelden. Aber eigentlich soll der Anzug nur den harten Aufprall verhindern. Das tut er im Stück der Bonner Autorin Lisa Sommerfeldt nicht. Der Aufprall ist hart, hinterlässt tiefe Wunden.“ Ansgar König, Schwäbische

„Immer wieder wird die traurige Banalität einer Trennung überführt in die existenzielle Verfehlung des Menschen, sich selbst zu erkennen. Ob Hybris, Ignoranz oder Trotz, so sehr Marie, Lena und Florian versuchen, nicht Opfer zu sein, so sehr sind sie es. Ihrer selbst. Vor allem Florian, ein Spiegel verunsicherter Männlichkeit unserer Gegenwart, wird in seiner Hilflosigkeit zum Unheilstifter. Und so scheint es eben zwingend, dass sein Flug im Wingsuit wie der des Ikarus ein fataler ist. Selbst-Apotheose und Katastrophe fallen zusammen. Letztlich auch Spiegel einer politischen Konstellation.“ Stephanie Metzger, Gastkritik Deutschlandfunk Kultur

  • Schauspiel
  • 2D 1H
  • Gefördert durch ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur im Künstlerhaus Edenkoben 2017
  • Auftragsarbeit für das Theater der Stadt Aalen
  • Uraufführung am 28.9.2019, Regie: Tonio Kleinknecht, Dramaturgie: Tina Brüggemann, Ausstattung: Ana Tašić, es spielen: Margarete Lamprecht, Julia Sylvester und Marc-Philipp Kochendörfer 
  • wing.suit“, Hörspiel WDR 2020 (Hörspielübernahme DLF 2020/2021 und RAI Südtirol 2021)
  • Nominierung als „Hörspiel des Monats Juli 2020“

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REZENSION
„Ikarus hat nicht auf die Warnung des Vaters gehört. Er flog zu nah an die Sonne, das Wachs in seinen Federn schmolz, er stürzte ins Meer. Florian hört im Traum die Warnung seines Vaters vor dem Höhenflug auch zu spät. Deshalb fragt er im Leben erst gar nichts mehr, sagt nichts mehr. Fällt aber trotzdem genau hier, im Leben, tief. Und zwar nicht erst, als er beim Fallschirmspringen im Wingsuit in eine Felsenschlucht stürzt.
Der Protagonist in Lisa Sommerfeldts Hörspiel „wing.suit“ hat schon vorher das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Im Job als Anwalt läuft es zwar gut, aber die beiden Kinder sieht er kaum mehr. Marie, mit der er sich eigentlich die Hausarbeit teilen wollte, wird in die Rolle des Hausmütterchens gedrängt. Lena, seine Geliebte, fordert von ihm die Trennung. Als Marie die Diagnose Brustkrebs bekommt, rückt die Erfüllung dieser Forderung einmal mehr in die Ferne.
Denn schon vor dieser Diagnose war Florian lieber ein Betrüger als Entscheidungen zu fällen. Florian passiert sein Leben mehr, als dass er es steuert. Er ist das passiv-aggressive Zentrum im Prozess eines Auseinanderfallens, eines stetigen, sich steigernden Nicht-Verstehens, einer Verfehlung. Weshalb die Gespräche zwischen Marie und Florian immer wieder gedoppelt sind, Gemeintes und Gesagtes auseinanderfallen.
Lisa Sommerfeldt schildert so banal wie poetisch das Auseinanderdriften eines Paares. Und viel mehr als das: Jeder ist hier gefangen in der eigenen Unfähigkeit, Ansprüche zu erfüllen, seinem eigenen Lebensentwurf gerecht zu werden, Abhängigkeiten zu überwinden. Zuhören – geschweige denn Mitgefühl – werden bei solcher Überforderung scheinbar unmöglich. Wo deshalb die Dialoge in der akustischen Doppelbelichtung zerfallen, hören sich auch die inneren Stimmen an wie müde Bestandsaufnahmen ohne Kontakt zu dem, dessen Leben sie beschreiben.
Ein Spiegel verunsicherter Männlichkeit
Es sind vielfältige sprachliche Mittel, die Lisa Sommerfeldt in ihrem zweiten Hörspiel für den WDR einsetzt. Schon wie das erste, „Dorfdisco“, beruht es auf einem Theatertext. In der behutsamen Regie von Matthias Kapohl und im authentischen Spiel der Darsteller erfährt dieses stilistische Spektrum versierte akustische Ausgestaltung. Alltagsdialoge gehen über in poetisch-musikalische Sequenzen oder münden in Collagen für die mythologische Überhöhung: die Grausamkeit des Kronos, der Flug des Ikarus, die Blendung des Ödipus, die Rätsel der Sphinx.
Immer wieder wird die traurige Banalität einer Trennung überführt in die existenzielle Verfehlung des Menschen, sich selbst zu erkennen. Ob Hybris, Ignoranz oder Trotz, so sehr Marie, Lena und Florian versuchen, nicht Opfer zu sein, so sehr sind sie es. Ihrer selbst. Vor allem Florian, ein Spiegel verunsicherter Männlichkeit unserer Gegenwart, wird in seiner Hilflosigkeit zum Unheilstifter. Und so scheint es eben zwingend, dass sein Flug im Wingsuit wie der des Ikarus ein fataler ist. Selbst-Apotheose und Katastrophe fallen zusammen. Letztlich auch Spiegel einer politischen Konstellation.“ Stephanie Metzger, Gastkritik Deutschlandfunk Kultur