„Mädchen mit Hutschachtel“ in der Dramatischen Rundschau #28, Fischer Theater Verlag
November 2023
 

Lisa Sommerfeldt, 8. Mai 2020: Lockdown
(Autorengespräch, Innere Sicherheit: Theater der Stadt Aalen)
Am Anfang war Corona ein fast apokalyptisches Gefühl. Eine unsichtbare Gefahr, unerforscht, schwierig einzuschätzen. Die Kinder zu Hause. Lockdown. Seltsam und schön, sich auf das Wesentliche zu reduzieren. Dann Berichte von Hirschen, die durch Vororte von Paris flanieren. Das Foto eines Pumas, der durch das menschenleere Santiago de Chile streift. Kaum Flugzeuge am Himmel. Mehr Fahrräder als Autos auf den Straßen. Irritation des Kapitalismus: Unproduktivität, Häuslichkeit, Entschleunigung als neue Tugend. Der Blick in eine utopische, aber mögliche Zukunft. Diese Pandemie gibt uns ein Gefühl von Gleichheit, denn sie betrifft uns alle. Sie wirft uns auf unser Menschsein zurück. Und wie im Brennglas lenkt sie den Blick auf die Ungerechtigkeit im bestehenden System. Auf die schlechte Bezahlung der Menschen, die die Gesellschaft am meisten braucht. Und auf den Gender Pay Gap, der mit dem aufgestockten Kurzarbeitergeld vergleichbar ist. Dennoch ist es ein Privileg, diese Krise in Deutschland zu erleben. Gut informiert, in einer stabilen Demokratie, haben wir ein hohes Maß an innerer Sicherheit. Es ist aber eine nationale, nicht einmal europäische Sicherheit. Wenn ich meinem Sohn nach dem Zoom-Meeting seine geschnittenen Äpfelchen bringe, denke ich an die Kinder in Moria. Und daran, wie leicht es wäre, ihnen zu helfen.

Lisa Sommerfeldt: DOGMA
Das Theater ist ein lebendiger Organismus aus Spielern und Zuschauern. Es ist nicht Wissenschaft, es ist Kunst. Es soll dem Publikum wieder zutrauen und zumuten, selbst zu denken, anstatt es zu belehren. Es muss visionär sein und bescheiden, ehrlich und verletzlich, nackt und bloß. Nicht pädagogisch, sondern vielmehr diskursiv, auslotend, ein magischer Bezugspunkt auf Wahrheiten, ein Ort des Zaubers, der absurden Komik, der Übertreibung, des Zweifels, der Augenhöhe, der Empathie, der Utopie, der Provokation, der Anarchie. Ein Ort der dramatischen Sprache. Theater als Denkfabrik, als Ort der kollektiven, aber privaten emotionalen Reflexion, der multiplen Wahrheiten aller Beteiligten im Publikum und auf der Bühne.
Unsere komplexe, individualisierte Gesellschaft manifestiert sich in Chören, Erzählungen, aber auch und vor allem: in Figuren. In fehlbaren, tragikomischen Individuen, in denen man sich wiedererkennt, die an ihrer eigenen Wahrheit wachsen und sich zerstören. Outster statt Hipster. Theaterfiguren, die sich offenbaren und deren Leben und Sterben berührt und deshalb Relevanz hat. Dieses Theater befördert den Diskurs durch Geschichten, Schicksale, durch das beispielhaft Konkrete. Die Stücke sind dialogisch direkt, sie halten die Geschichten nicht durch erzählerische Prosaformen komfortabel auf Abstand. Sie gehen nah, weil sie hinschauen, weil sie ehrlich sind, sie sind unbequem, weil sie keine Kompromisse machen, sie sind die Axt für das gefrorene Meer der abgestumpften Gesellschaft. Und dieses Theater kann in all dem Grauen der globalisierten Welt, im Verlust des sicher Geglaubten, im sich rückwärts drehenden Rad der Zeit, in all dem Zwiespalt: einen Funken Freiheit finden, eine Hoffnung vielleicht, eine Schöpfung im Untergang, ein Skelett von Liebe. Es ist kein Theater des Konsens, es geht neue Wege. Es absorbiert die Errungenschaften des Postdramatischen und der Digitalität, erfindet neue Formen und integriert sie in ein zukünftiges dramatisches Theater. Diese Stücke sind nicht glatt, sie sind rauh. Es ist Zeit für theatrale Uncoolness, für das Theater der Peinlichkeit, der Unhipness, der Verlierer in uns, der unfreiwilligen Komik, der unangenehmen Wahrheit, der emotionalen Blöße, das Theater des Trash, des Punk, der Sterblichen. Die Ära nicht der well-made, die Ära der dirty-made plays.

Lisa Sommerfeldt: Mein ideales Kinder- und Jugendtheater
„Das perfekte Kinder- und Jugendtheater ist ein Ort für Kinder jeden Alters, aus jeder sozialen Schicht, mit jedem kulturellen Hintergrund. Es wird mit der gleichen Leidenschaft gemacht wie Theater für Erwachsene. Die Kinder und Jugendlichen werden herausgefordert, irritiert und zum Denken angestiftet – sie lernen ihrer Wahrnehmung zu vertrauen und verstehen, dass das Gefühl von Wahrheit manchmal so vielzählig ist wie die Menschen auf dieser Welt. In diesem Theater finden die Kinder sich wieder, weil es Nöte ernst nimmt, weil es aktuelle Themen behandelt, ohne zu verharmlosen, aber auch ohne reißerisch zu sein. Dieses Theater kann Einsamkeit und Sprachlosigkeit lindern. Es ist altersgemäß und humorvoll, ohne sich anzubiedern. Dieses Theater macht den Kindern keine Angst, es macht ihnen Mut, weil es die Wahrheit zuläßt und trotzdem Hoffnung hat. Es zeigt Perspektiven auf, ohne Fragen zu einfach zu beantworten, aber es vertraut auf die Veränderbarkeit der Welt. Dieses Theater ist ein heiliger Ort der Behauptung, der Zuspitzung, der Subjektivität, der Provokation, des Zweifels, der Fragen, der Visionen, des Zaubers. Es ist zuerst ein Ort der Empathie und erst in zweiter Linie ein Ort der Bildung. Die Stücke in diesem Theater dürfen reich sein, humorvoll, poetisch und märchenhaft – ehrlich, lustig und traurig und frech und in manchem rätselhaft. Dieses Theater stellt sich großen Themen und schwierigen Emotionen. Es ist vielschichtig, ohne sich wichtig zu machen, es ist in seiner Bildhaftigkeit und sprachlichen Wucht intuitiv und daher ohne Vorbildung zu verstehen.
Obwohl es den Kindern echte Kunstwerke zumutet, schließt es niemanden aus. Dieses Theater ist anspruchsvoll, weil es Dinge zwischen den Worten gibt, weil man die Essenz des Lebens nur komplex und poetisch begreifen kann. Und Kinder können das – genau so offen und phantasievoll, wie sie selbst spielen, so verstehen sie auch dieses Theater.“

Veröffentlicht von  als Beitrag zum Blog des Frankfurter Autorenforums.
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©by Lisa Sommerfeldt